Die rollenden Koffer vom Furkapass

Japaner! Sie nennen die Schweiz gerne «Heidi-Land» und fin[1]den hier in der Regel alles kirei, was auf Japanisch soviel wie schön und sauber bedeutet. Wenn sie aus ihren Millionenstädten Tokio oder Kyoto angereist kommen, und erstmals vor das Panorama schneebedeckter Berge und grüner Alpwiesen treten, dann fühlen sie ihre sauberkeitsfanatischen Träume bestätigt. Unmöglich, dass hier in diesem Hort der Ruhe, Ordnung und Pünktlichkeit auch einmal etwas schiefgehen kann. Die folgende Geschichte nahm im Spätsommer 2004 ihren Lauf, auf dem Furkapass, der zu dieser Jahreszeit – meteorologisch gesehen – eine sichere Angelegenheit ist.

Unser Reisecar, ein Drögmüller Super Comet mit allen Schikanen, war schon den halben Tag unterwegs. Von Luzern aus würde die Fahrt über Brig nach Zermatt führen, – zum Horu wie das Matterhorn im Wallis heisst – und dieser Anblick wäre für die fünfundzwanzig Japaner ein würdiger Abschluss ihrer zweiwöchigen Tour. Michi, unser Fahrer, hatte es trotzdem nicht leicht, denn ein typischer «Nikonianer» blitzte ihm unentwegt über die Schulter, offenbar wollte er das von aparten Grautönen wimmelnde Asphaltband vor dem Bus en Detail kartographieren... Milde Proteste, doch bitte den Blitz auszuschalten, wischte der Schnappschütze durch ein kehliges Kirei, kirei! – begleitet von zahlreichen, schwer deutbaren Gesten beiseite – und bot ihm stattdessen ein plastikverpacktes Reisküchlein an. Ganz nett, doch wie isst man so ein Ding mit beiden Händen am Steuer? Michi machte wie so oft auf seinen Reisen mit ostasiatischen Gästen gute Miene zum undurchsichtigen Spiel, das heisst, er kniff die Augen dermassen zusammen, dass er fast selbst wie einer der Gäste aussah. Dabei griente er stumm vor sich hin. «Gleich hast du’s geschafft», tröstete ich ihn, «in einer guten Stunde sind wir in Brig.» «Eine Stunde? Das halte ich nicht mehr aus.» Noch ging der Serpentinentanz weiter. Und der Blitzer sass dem Fahrer dabei im Nacken.

Der hatte gerade die nächste Kurve genommen, als es unter den Sitzen der Passagiere gehörig zu rumpeln begann... Ein Donnern war plötzlich zu hören und im ersten Moment hatte ich an Steinschlag gedacht, doch Michi hatte offensichtlich etwas im Aussenspiegel gesehen, was schuld daran war, dass sein breites Grinsen in Sekunden verflog: Die Klappe des Laderaums stand sperrangelweit offen, die Koffer rutschten, nein, flogen einer nach dem andern hinaus. Japaner – soviel ist sicher – haben wohl nie Schwierigkeiten mit Übergepäck. Irgendeine aussereuropäische Sonderregelung scheint sie vor den Schikanen der Fluggesellschaften, dieser Luftwegelagerer, zu bewahren oder sie haben bereits im Voraus bezahlt. Die Menge der Koffer, die sich – von der in Kurven auftretenden Schubkraft beflügelt – ihren Weg in die Freiheit gebannt hatte, ähnelte tatsächlich einer kunterbunten Lawine. Und diese schiere Masse donnerte gerade einen steinigen Abhang hinunter!

Die Bremsen kreischten in diesem Moment wie eine Katze, der jemand auf den Schwanz getreten hatte, und ich kreischte noch um einiges lauter «Please stay seated, stay seated!» Der Bus hatte inzwischen gehalten und der Chauffeur – von pfeifender Atemnot befallen – torkelte bereits zum Kofferraum und dann den Abhang hinunter, während ich mein Bestes gab die noch stets kulturgetränkten, aber hellauf entsetzten Ostasiaten zu beruhigen. Was natürlich misslang. Sie ignorierten mich und drängten bereits nach der Seite des Cars, von wo man die Gepäckstücke zwischen den Felsen ausmachen konnte. Dellen und Schrammen waren selbst von hier aus zu sehen. Und einige dieser «Wandschränke» – die Rede ist natürlich von den japanischen Koffern – hatten sich am Ort ihres Aufpralls geöffnet und ihre kostbaren Innereien zwischen Geröll, Felstrümmern und Disteln verstreut.

Sagen wir mal, der Anblick hatte etwas von einem übernatürlichen Naturphänomen. Wobei der Eindruck des Übernatürlichen vielleicht einfach nur in dem quasi-identischen Inhalt der aufgeplatzten Koffer bestand – immer ein gelber Laib Käse, eine Krawatte in den Schweizer Nationalfarben, ein paar Uhren-Köfferchen, eine Flasche Aprikosenschnaps, eine Rolle Toilettenpapier, dieselben Frotteehandtücher (Andenken an ein bestimmtes Hotel?) und natürlich Schokolade, die dreieckige, in rauen Mengen. Eine Dame mit Porzellanschminke, die wir insgeheim Madame Butterfly getauft hatten, entfaltete ihren Fächer und begann auf der Stelle wie ein Propeller zu knattern... Und was den schnappschuss-freudigen Herrn anbelangte – sein Gesichtsausdruck war wohl am besten als pikante Mischung aus Furcht, Entsetzen und mühsam eingedämmtem Hass zu beschreiben. Zudem begann er in immer kürzer werden Intervallen zu knurren. «Keine Aufregung – Don’t panic, please!» Angesichts des Gefälles schien es mir ratsam unserem Fahrer zu helfen, doch Madame war noch immer nicht Herrin ihrer seelischen Erschütterung geworden.

Mit einem Bettlaken grossen Taschentuch versuchte sie ihre Tränen zu trocknen und wies dabei auf einen besonders verbeulten, kirschroten Koffer, der wie ein gehäutetes Tier auf zwei Steinspitzen hing. «Total damage... TOTALSCHADEN! You pay? You pay?» Während ich noch über die Grösse des Sachschadens nachdachte, meldete sich unser Fahrer mit einem kläglichen Holloderiie- Hollo- derooh! von irgendwo unterhalb meines Sichtfelds zu Wort. Es war ein klarer Verzweiflungslaut und ich ahnte, dass der Hang doch wesentlich steiler und diese Kofferwandschränke wesentlich schwerer waren, als sich Michi das vorgestellt hatte. Mühselig schafften wir im Laufe von anderthalb Stunden die Koffer wieder herauf, wo sie von ihren rechtmässigen Besitzern mit stöhnenden oder knurrenden Lauten entgegengenommen wurden.

Erst nach der Bergung des letzten Koffers rief ich unsere Versicherung an. Nur, wie schilderte man so einen Unfall, der im Grunde noch glimpflich abgelaufen war? «Sie meinen, all die Koffer sind den Furkapass runtergesaust... Fünfundzwanzig Koffer?» Auch der Versicherungsmensch hatte offenbar Mühe sich das Ausmass dieses Malheurs bildlich vorzustellen. Inzwischen hatten die unvermeidlichen Kämpfe zwischen Koffern und Menschen begonnen, wobei der Mensch darauf erpicht ist, den Inhalt des Koffers wieder so zu verpacken, dass die Schlösser einschnappen. Was sie natürlich nicht tun, vor allem wenn sie zu übervollen und heillos ramponierten Wandschränken zählen.

Schliesslich gaben die Japaner der Reihe nach auf. Durch Gebärdensprache gaben sie mir zu verstehen, dass sie unter keinen Umständen mit ihren beschädigten Koffern abfliegen würden. Was jetzt? Vielleicht war der sachdienliche Gedankenaustausch zwischen mir und dem Versicherungsmenschen tatsächlich erschöpft – oder der Allmächtige hatte Erbarmen mit mir gehabt, denn der Mann entschied nach einer gedankenschweren Pause die beschädigten Koffer komplett zu ersetzen. Das bedeutete auf dem Furkapass eine entschiedene Wende zum Besseren, vielleicht sogar einen Schritt zur Verwirklichung dessen, was die Branche seit Jahren Reiseversicherung nennt. Einige der Japaner begannen auf der Stelle Banzai, Banzai! zu brüllen, ein auf ihrer Insel verbreiteter Hochruf, der dem Schreihals Freude und Glück für zehntausend Jahre einbringen soll. Noch während der Fahrt nach Brig machte ich dann eine Liste von allen Koffermarken und Grössen, die sich freilich nur abschätzen liessen. «XL – XXL – XXXL?» Andere Grössen gab es ja nicht. Mir schwante bereits, dass es nicht leicht werden würde, so viele Riesenkoffer an einem Nachmittag aufzutreiben.

Eine Stunde später stiefelten unsere fünfundzwanzig Japaner durch die Bahnhofsstrasse von Brig. Ein Ehepaar aus Kyoto wollte mich fast adoptieren, so lieb hatten sie mich inzwischen gewonnen. Andere schworen mir lautstark ewige Feindschaft, wenn sie kurz kommen würden. Warum auch nicht. Bei Loeb in der Kofferabteilung hatten wir Glück. Alle Gäste reisten mit neuen Riesenkoffern weiter nach Zermatt. «Mission erfüllt», meldete ich gegen Abend unserer Zentrale. Abgesehen davon, dass uns der Zermatter Hotelier noch eine gesalzene Rechnung «für die sachgerechte Entsorgung der beschädigten Koffer» zuschicken sollte, hatte der Vorfall auch einen positiven Effekt auf unser Business gehabt: Wir richteten in unserem Briger Büro einen Reiseshop ein und verkaufen von nun an selbst Koffer und Reise-Necessaires an die Kunden. Aus Schaden sollte man irgendwie klüger werden, finde ich jedenfalls.