Durch tiefen Schnee nach Portoroz

«Wenn etwas schiefgehen kann, geht es schief.» Jeder in der Touristikbranche macht früher oder später Bekanntschaft mit Murphy’s Law. Nur das Warentermingeschäft hat vielleicht einen grösseren logistischen Aufwand und mehr Risiken, die keiner vorhersehen kann. In unserem Fall haben wir es nicht mit Kaffee und Getreide zu tun, sondern mit Menschen, die uns ihre Ferien anvertraut haben. Wir bringen sie mit unseren Cars an Orte, wo sie ausspannen und sich rundum wohlfühlen können und deshalb tun wir von vorne herein unser Bestes, Herrn Murphy und sein verflixtes Gesetz so klein wie möglich zu halten. Nicht immer haut das so hin, wie wir es uns wünschen. Am 24. April 1976 trat ich in aller Herrgottsfrühe hinaus vor die Tür – um bis zu den Knien im Schnee zu versinken! Es war der Tag unserer Reise nach Portoroz, dem malerischen «Hafen der Rosen» an der ehemaligen jugoslawischen Adria-Küste. Seit 1972 stand das Küstenstädtchen in Titos Jugoslawien in unserem Katalog. Zwischen März und November fuhren wir es fast wöchentlich an. Vielleicht war die Stiftung Pro Senectute so auf uns gekommen? «Als Frühlingsreise für unsere Senioren ideal!», hatte die Ortsvertreterin mir noch geflüstert. Naja... Ich holte einmal tief Luft, denn die Landschaft um mich herum sah streng genommen fast winterlich aus. Und falls der Wetterfrosch im Radio nicht völlig durchgedreht war, dann waren in der Nacht satte 76 Zentimeter Neuschnee gefallen. In Visp, wo es der liebe Gott besonders gut mit uns meint, – und wo ich gerade wacker vor mich hin stapfte –, hatte es sogar einen Meter zwanzig geschneit. Nun ist der Walliser Wetterkapriolen gewohnt und nichts schweisst hier die Leute so sehr zusammen wie ein grässlicher Schneeeinbruch mitten im Frühling. 

Es hätte eine gemütliche Fahrt werden können, doch diesmal waren alle Strassen (einmal abgesehen von den Kantonsstrassen) gesperrt und damit konnten wir unsere Abfahrt vergessen. Auf der Passstrasse über den Simplon waren die Lichter von Räumungsfahrzeugen zu sehen. Was nun? Drei Busse standen seit 5 Uhr für 150 urlaubshungrige Gäste bereit: 7 Tage Vollpension für 295.- Franken – wenn man das heute liest, hat man eine konkrete Vorstellung, was manche Herrschaften mit der guten alten Zeit meinen. Es ging nicht anders, wir mussten unsere Abfahrt verschieben, und alle Gäste – die reisefertigen und die welche gerade unterwegs waren – von dieser Änderung unterrichten. Das war leichter gesagt als getan, denn Natels gab es Mitte der Siebziger Jahre bestenfalls in Science-Fiction-Filmen zu sehen. Es war nicht einmal gesagt, dass alle Mitreisenden ein Telefon hatten. Als ich in Visp, dem nächsten Buseinsteigeort eintraf, stellte ich mit schweissgebadeter Erleichterung fest, dass die meisten Senioren die Angelegenheit mit Humor nahmen. Nur eine Dame teilte mir unter Tränen mit, sie habe ihr Gebiss zu Hause vergessen, man möge die Abfahrt doch bitte um eine Stunde verschieben. «Lassen Sie sich Zeit», beruhigte ich sie, «wir müssen die Abfahrt sowieso um 24 Stunden verschieben. Gehen Sie also unbesorgt heim, suchen Sie Ihre Beisserchen und wir sehen uns morgen wieder, zur selben Zeit.» «Das ist lieb von Ihnen», erwiderte sie mit verkniffenem Mund, «aber mehr als eine Stunde brauche ich nicht.» «Nein, nein, ich sagte, wir fahren erst morgen.» «Sorgen? – Ach, ja, da haben Sie etwas Wahres gesagt...» Offenbar war die gute Frau auch ohne ihr Hörgerät unterwegs. Ich bückte mich also und rieb ihr eine Handvoll Schnee unter die Nase. «Sehen Sie das? – Das ist Schnee. Der Simplonpass ist gesperrt, wir können nicht fahren. Selbst wenn wir es wollten!» Sie betrachtete den Schnee und dann die Menschentraube vor dem Bus, die sich bereits eilig zerstreute. Dann hatte auch sie endlich kapiert und rollte ihren Koffer mit hängenden Schultern davon. Ich dachte im ersten Moment, wir hätten eine Kundin verloren, doch am nächsten Morgen tauchte sie wieder auf, und begrüsste mich diesmal mit einem strahlenden Lächeln. 

Soweit, so gut. Tatsächlich verlief unsere erste Reise im Auftrag von Pro Senectute komplett nach Plan. Die Strassen waren geräumt und unser Car-Konvoy schaukelte mühelos die Pässe hinauf und hinunter. Es herrschte eine tolle, unbeschwerte Stimmung an Bord. Knifflig wurde es erst an der jugoslawischen Grenze, nicht nur wegen der Devisenhändler, die hier zusteigen wollten. Die Visa wurden direkt vor Ort ausgestellt und es war wohl eine Vorahnung, die mich ritt, als ich den Beamten nicht nur meine ID, sondern auch meinen Reisepass übergab, was dazu führte, dass ich später zwei Visa erhielt. (Tatsächlich sollte ich einer Dame später aushelfen können: Sie hatte ihr Visa verloren und freute sich über das unbürokratisch erworbene Ersatz-Dokument.) Endlich hatten wir unser Hotel Slovenija erreicht. Es war eines der besten Häuser im Ort, doch gerade traditionsgesicherte Häuser sind nicht gegen Reklamationen gefeit. Ausnahmsweise ging es nicht nur um das in südlichen Ländern ausgeprägte Trinkgeldunwesen, geräuschvoll fauchende Klimaanlagen oder vertauschtes Gepäck, – dieses Palaver schien eher um psychologische Aspekte zu gehen und gewisse «Raumschwierigkeiten». 

Die Atmosphäre liess bereits Zeichen ernster Spannung erkennen. Wie es sich für einen guten Reiseleiter gehört, stimmte ich mich daher innerlich auf den nächsten Schicksalsschlag ein. «Halli hallo – wo drückt uns denn der Schuh?», preschte ich vor um den schlimmsten Unmut vorab zu zerstreuen. Dass dieser Spruch nicht gut ankam, bemerkte ich schnell, denn die beiden Damen, die sich gerade bei dem Concierge beschwerten, musterten mich mit herabwürdigenden Blicken. Das schwache Geschlecht lebt bekanntlich in seiner eigenen Welt – nicht jede Hilfe ist hier willkommen, selbst wenn sie gut gemeint ist. «Ja, das sind vielleicht Sitten», fing eine der Ungnädigsten an. «Was denken sich diese Leute?» Sie straffte sich und äusserte dann mit unheilvoller Entschlossenheit: «Wir haben ein Doppelzimmer gebucht, doch von einer Tür, die ins Nachbarzimmer führt, stand nichts im Programm!» «Man weiss ja nicht, wer da haust», legte die zweite Dame nun nach. Sie war ein einziges Zittern. «Also, wenn da nachts einer käme – ein Wildfremder, da würde ich einen Herzschlag kriegen vor Angst...» «Ho ho, jetzt lassen Sie mal die Kirche im Dorf.» Ich war damals vielleicht noch ein Greenhorn, aber schon lange genug dabei um zu wissen, dass ich mir selbst ein Bild machen musste. Ich begleitete die Damen also hinauf auf ihr Zimmer und sie zeigten mir die fragliche Tür. Nachdem ich ein paar Mal angeklopft hatte, legte ich die Hand auf die Klinke... Die Tür öffnete sich, ich machte Licht und schon standen wir in einem blitzeblank geputzten Badezimmer. «Also, das... das gibt’s doch gar nicht», hörte ich eine der Ungnädigsten stammeln, «ein eigenes Bad auf dem Zimmer! Dann haben wir uns umsonst Sorgen gemacht.» Sieht so aus, dachte ich noch. Tja, wer mit uns in die Ferien fährt kann sicher sein, nicht im Würgegriff eines Hotel-Hallodris zu landen; noch keiner unserer Gäste war in einen Wäscheschrank oder ähnliches hineingestopft worden und niemand hatte sich jemals ein Zimmer mit einer fremden Person teilen müssen. Ehrenwort. Ich überliess meine Damen also in diesem Zustand abgeflauter Empörung über sich selbst. Andere Gäste äusserten natürlich andere Sorgen, und in manchen Fällen war es so gut wie unmöglich auch nur gedämpftes Licht ins Dunkel ihres persönlichen Trübsaals zu bringen. 

Ein paar Tage waren inzwischen vergangen und unsere Gäste hatten sich in Portoroz gut eingelebt. Dann – ich hatte schon gar nicht mehr damit gerechnet – nahm mich eine hochbetagte Dame eines Abends beiseite: Sie habe im Bad eine Kinderbadewanne entdeckt. «Eine was?» Durch tiefen Schnee nach Portoroz «So einen kleinen Zuber aus Porzellan, Sie verstehen?» Ich nickte – frei nach Motto: Jedem ein offenes Ohr. So «etwas Niedliches» habe sie noch nie in ihrem Leben gesehen. «Aber vielleicht sollte man das Zimmer besser einer Person geben die Kleinkinder hat. Was meinen Sie?» Können Sie sich vorstellen, dass ich in diesem Moment nur Bahnhof verstand? Erst als sie mich auf ihrem Zimmer zu dem kleinen Porzellanzuber führte, wurde mir klar was sie meinte – das vermeintliche Kinderwaschbecken war ein Bidet. Sinn und Zweck dieser glorreichen Errungenschaft französischer Lebensart war an dieser Dame offenbar spurlos vorüber gegangen.