Lourdes sehen und sterben

Ist das der Bus nach Lourdes zur Basilika Pius X.?» Der Mann, der mich das fragte hatte eine 20-Kilo-Pilgerkerze mit Kantonswappen und selbstgehäkelter Manschette über der Schulter. «Ja, das ist er. Aber warten Sie... Ihre stattliche Kerze gehört eigentlich in den Kofferraum. Da ist sie besser aufgehoben, glauben Sie mir.» «Vergelt’s Gott, Herr Pfarrer!», lautete die fromm-fröhliche Antwort und schon hatte ich einen verzierten Wachs-Torpedo von der Grösse eines Kleinkinds am Hals! Offenbar hielt der Gast mich für einen Bus-Seelsorger oder freien Pilgerbruder und ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung wie sehr ich diesem Ruf noch gerecht werden sollte. Es war nicht meine erste Pilgerfahrt im Namen des Herrn, das nur nebenbei. Unsere Cars fahren seit 1968 regelmässig nach Lourdes, Assisi, Montichiari oder nach Einsiedeln zur Schwarzen Madonna. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Zerzuben Touristik das uneingeschränkte Vertrauen des Bistums Wallis geniesst. In den letzten zwanzig Jahren haben wir immer wieder interdiözesane Pilgerreisen organisiert und tausende Gläubige zur Krankensalbung begleitet.

Diese Reise, die nun vor uns lag, unterschied sich allerdings von allen anderen, die ich bisher mitgemacht hatte, fast möchte man sagen, der liebe Gott hatte vorgehabt einmal so richtig auf unsere Kosten zu lachen. Einen kleinen Vorgeschmack hatte er uns schon vor ein paar Tagen gegeben, während einer Fahrt nach Einsiedeln. Schon halber Wege in Richtung Grimsel gab es ein erstes Problem. Wir hatten die Passhöhe gerade erreicht, da erschien ein nervös wirkender Gast beim Chauffeur. Der junge Mann erschien mir irgendwie unpassend gekleidet, – Turnschuhe, Bermuda-Shorts und ein verwaschenes Eviva Espania! -T-Shirt wirkten unter Menschen, die so aussahen, als ob sie der Bischof persönlich in jedes Morgen- und Nachtgebet miteinschliessen müsste, zumindest befremdend. «Sagen Sie mal», begann er, «haben Sie heute eine neue Route gewählt?» Der Fahrer schnalzte kurz mit den Lippen. «Nicht, dass ich wüsste.» «Aber letztes Jahr sind Sie anders gefahren...» «Nein, da täuschen Sie sich.» Um unseren Fahrer zu entlasten, verwies ich den Gast auf unser Reiseprogramm. «Sehen Sie, da steht es schwarz auf weiss, Grimselpass. Wir sind nie anders gefahren.» «Dann ist das der Bus, der nach Einsiedeln fährt?» Der Fahrer drehte den Kopf und schenkte mir einen leicht manischen Blick wie um zu sagen Mach-jetzt-ja-keinen-Mist... «Sicher, das ist er.» – Was sollte ich auch anderes sagen? «Oh, dann bin ich wohl im falschen Caaaahhhr...» Das letzte Wort wusste der Gast unnachahmlich zu dehnen.

Mir war es inzwischen, wie Schuppen von den Augen gefallen: In Visp, am Einsteigeplatz, hatte an diesem Morgen ein zweiter Bus ebenfalls Halt gemacht, um urlaubshungrige Walliser in die Badeferien zu bringen. Glücklicherweise hatte unser verhinderter Spanien-Urlauber aber Humor: Dann gehe er halt zum Beichten nach Einsiedeln, statt zum Sündigen nach Spanien, meinte er noch. So einfach kann die Welt sein, wenn man nur glaubt! Natürlich gibt es auch schwierige Gäste und auf der besagten Fahrt nach Lourdes hatten wir einige der schwierigsten Exemplare an Bord. Ein gut situierter Herr, der im besten Sonntagsanzug aufgetaucht war, hatte ganz offensichtlich gewisse Kontaktschwierigkeiten. «Der hält sich wohl für was Besseres», – so der allgemeine Tenor und man hatte tatsächlich den Eindruck einen Gentleman aus einer vergangenen Epoche zu sehen. Selbst in der Schlange am Raststätten-Büffet trug er eine distinguierte Mine zur Schau; mir schwante, es würde nicht leicht für diesen noblen Kunden die passende Tischgesellschaft zu finden. Glücklicherweise gab es da noch zwei Damen, die sich ebenfalls absonderten und vom Kleidungsstil gut zu ihm passten. Und freundlich, wie sie waren, schenkten sie mir ein offenes Ohr: «Aber selbstverständlich, wir werden uns schon um den Gentleman kümmern.» Offensichtlich hatten sie das Sozialproblem haarscharf erkannt und sich entschlossen eine zwischenmenschliche Brücke zu bauen.

Lange hielt die allerdings nicht. Es waren kaum 48 Stunden vergangen, da bat mich eine der Damen um ein ernstes Unter-vier-Augen[1]Gespräch: «Wie soll ich es sagen, aber die Tischmanieren von diesem Herrn, sind mehr als gewöhnungsbedürftig.» «Inwiefern?» Mir war nicht klar, was sie meinte. «Nun, es ist nicht, dass er schmatzt oder Verdauungsgeräusche macht...» Sie holte einmal tief Luft. «Er nimmt die Essensreste vom Teller und lässt sie in seiner Hosentasche verschwinden.» «Essensreste?» «Ja. Manches verpackt er auch in seine Serviette, doch das meiste sackt er einfach so ein. Selbst den Gulasch.» Mir wurde schlagartig klar, wie sehr die Damen wohl litten, denn die Vorstellung vom Inneren einer gulaschgefüllten Hosentasche war gewiss nichts für schwache Mägen. Was blieb mir da anderes übrig als unseren verhaltensauffälligen «Grafen» um eine Auskunft zu bitten? «Gehört zur guten Kinderstube», meinte er trocken. «Nichts auf dem Teller übriglassen. So haben mich meine Eltern erzogen.» So so ... Ich erlaubte mir dennoch den zarten Hinweis, dass sich die Zeiten geändert hätten, man sähe das Ganze nicht mehr so streng, man könne das eine oder andere getrost zurückgehen lassen, es werde auf jeden Fall ökologisch richtig entsorgt.

Das schien ihn zum Umdenken zu bewegen, jedenfalls lag sein Sonntagsanzug am nächsten Morgen zur Reinigung an der Rezeption! Der Super-GAU stand mir allerdings noch bevor. Es gibt solche Reisen, die entbehren zunächst jeder dramatischen Spannung bis sie dann jäh – von einem Moment zum nächsten – in kompletten Wahn[1]sinn umschlagen. Drei Tage nach der Sache mit unserem «Grafen» zog mich jemand in dem mit Veroneser Marmor getäfelten Foyer des Hotels hinter eine der Säulen. Mit einem Überfall hatte ich nicht wirklich gerechnet, aber ich war doch erleichtert unseren Chauffeur Toni zu sehen. «Probleme?» «Nein, Chefchen, das nicht. Naja... es gibt ein Sonderproblem.» Der Fahrer hatte den Kopf in die Hände gestützt, so dass ich glaubte förmlich sehen zu können wie seine Haare ergrauten. «Ein... ein Sonderproblem?» «Hm hm.» Selten hatte ich einen gestandenen Chauffeur so herumdrucksen gehört. «Oben auf Zimmer 12 liegt ein Toter, ich habe ihn gerade entdeckt! Zum Glück sind die anderen Pilger unten beim Frühstück.» Ein Toter auf Zimmer 12... und das so kurz vor dem ersten Besuch der schönen Mariengrotte. Mir war der Ernst der Lage so klar wie dem Finanzbeamten eine professionell frisierte Steuerhinterziehung, die gerade dadurch, dass es formal nichts zu beanstanden gibt, einem Offenbarungseid gleicht: Der Tod eines Pilgers hätte ein dickes Fragezeichen hinter den Sinn und Zweck interdiözesaner Wallfahrten gesetzt.

Ich musste mir also etwas einfallen lassen. Der Leichenbeschauer hatte die Papiere inzwischen fertig gemacht, doch noch immer sass ich da mit dem dicksten, dem schlimmsten Teil des Sonderproblems, – wie den Toten durch die Hotellobby hinaus zum Auto des Bestatters zu schaffen? Im Hausmeister des Hotels, einem echten Sizilianer mit Pomadenfrisur und einer goldenen Rolex am Handgelenk, fand ich glücklicherweise einen Komplizen. «Leiche nicht gut zum Frühstück», witzelte er. Ein halber Zigarillo, Marke «Krummer Hund », klebte ihm lässig am Mund, vielleicht um eine Narbe zu camouflieren, doch seine wenigen Worte warfen ein grelles Schlaglicht auf unsere verzweifelte Lage. Schliesslich – als wäre er mit solchen Katastrophen hinlänglich vertraut – riet er mir einen Teppich zur Tarnung zu nehmen. «Laken zu auffällig. Leute denken dann an fantasma – oder wie sagt man bei Ihnen – ach ja, Gespenster. Und Gespenster sind böse Geister von Toten. Nicht gut, gar nicht gut.» Da hatte er irgendwie recht.

Also landete ein Teppich neben dem Bett. Glücklicherweise hatte der Verblichene die Augen geschlossen, denn selbst die Eingeborensten aller Sizilianer – sagen wir ruhig, Blutverwandte von Don Corleone – hätten an dieser Stelle gezaudert. Dazu hatte ich aber gar keine Zeit. Beherzt hob ich den Verblichenen auf, legte ihn auf den Teppich und der Leichenbeschauer faltete ihm behutsam die Hände. Dann sahen wir uns an, zählten, bis Drei und rollten unsere Teppich-Roulade zusammen... Darf ich trotzdem erwähnen, dass ich auf dem Weg zum Lift, vor allem, während wir warteten, von gewissen Vorstellungen gepeinigt wurde? In einer Vision öffnete sich die Kabinentür und ich sah mich der Gendarmerie gegenüber, ein andermal war es der Bischof, der angesichts des Teppichs vor Schrecken erbleichte... Dem Fahrer schien es nicht besser zu gehen. Sein Haar – ohnehin schon ergraut – begann jetzt auszufallen, oder er hatte es sich einfach zu sehr gerauft. Zumindest glaubte ich das zu sehen. «Wenn das nur gut geht», murmelte er. «Nein, es muss gut gehen. Es muss.» Das brachte mich wieder zurück in die Realität. Als der Lift endlich kam, war klar, dass es um den Teppich herum doch etwas eng werden würde, der Bestatter bot sofort an die Treppe zu nehmen. «Ich warte dann in der Tiefgarage auf Sie... A presto, Signore!» «Da komme ich mit!», rief unser Fahrer – und der Leichenbeschauer hatte ohnehin nicht den Eindruck gemacht, mit dem Teppich vor meiner Brust auf Tuchfühlung gehen zu wollen. Die Tür schloss sich und ich fragte mich noch, ob der Bestatter auch wirklich den richtigen Knopf gedrückt hatte, als einziger Lastesel hatte ich die Hände nun wirklich nicht frei!

Was weiter geschah habe ich nur nebelhaft in Erinnerung – die Aufzugstür öffnete sich wieder und ich bemerkte, dass ich mich im Erdgeschoss gegenüber der Rezeption befand. Der Concierge starrte mich an, als ob ich ein Teppich-Klau wäre und zu meinem Leidwesen versuchte ein englisches Ehepaar zuzusteigen. «Up?» «Down», erwiderte ich. Der Schweiss stand mir fingerdick auf der Stirn. «By the way: This is an emergency – dies ist ein Notfall, verstehen Sie?» «No, I don’t. Please make way.» «Sir! Please! I told you I’m going down...» Ich schob mich samt Teppich dem Mann in den Weg und blockierte seinen Umgehungsversuch mit einem Manöver, das man beim Eishockey Klub Visp einfach Body Check nennt. «Are you mad?» Der Brite hatte wohl in jungen Jahren Rugby gespielt, denn er tauchte ab und umklammerte in einem tollkühnen Tackle mein rechtes Knie... Sein Griff lockerte sich bereits im selben Moment, vielleicht hatte er die blossen Füsse am unteren Ende der Teppich-Roulade gesehen. «Good Lord», japste er jetzt vor sich hin, «God almighty...» Zwei Hoteldiener setzten sich bereits in Bewegung, um nach dem Rechten zu sehen, doch es kam Rettung in letzter Sekunde. «Scusi, Signore – excuse me, Sir...» Der Bestatter und unser Fahrer tauchten in diesem Moment auf und stellten den Briten non-chalant auf die Beine. «Sorry, Reservation!», schwindelte unser Fahrer und drängelte sich in die Kabine. Und nachdem er den untersten Knopf – also Tiefgarage – gedrückt hatte: «Alles paletti, Chef! Sie sind gerettet.»

Dabei schien er fröhlich grinsend, und ja, ich war in diesem Moment dermassen verzweifelt, dass ich selbst einem Mann, der in seinen Zähnen herumstocherte, ein Lächeln abgekauft hätte. Eng aneinandergeschmiegt fuhren wir ein Stockwerk hinab, wo mich der Bestatter von meiner schweren Last – vor allem in seelischer Hinsicht – erlöste. Es ist nicht immer gesagt, dass Heimreisen langweiliger als Hinreisen sind – jedenfalls nicht in einem von unseren Cars. An der Schweizer Grenze stiegen plötzlich zwei Zöllner zu, «scharfe Hunde», das konnte ich an ihrer tadellosen Aufmachung sehen. Ganz langsam «schnüffelten» sie durch den Bus, zupften hier und da an einer Tüte herum, bis sie etwas in einer Gepäckablage bemerkten und argwöhnisch grinsten. «Sieh an, Herr Röntgenauge hat was entdeckt», murmelte unser Fahrer. Ich liess mir nichts anmerken, doch ich hatte schon eine Vorahnung, als die Beamten mit vereinten Kräften einen 10-Liter-Kanister aus der Ablage hievten. «Gehört dieser Kanister Ihnen?» Einer der Pilger hob schüchtern den Kopf. «Der gehört Ihnen?» «Ja.» «Hätte der werte Herr vielleicht die Freundlichkeit mir zu sagen, welche Art von Flüssigkeit sich in diesem Behältnis, dass man einen Kanister nennen könnte, befindet? – Ich höre.» Natürlich wusste der Zöllner genau, dass ihn ein vor Angst gelähmtes Kaninchen anstarrte, doch das schien ihn erst recht zu reizen, seine bedrohlichen Phrasen in die Länge zu ziehen.

«Oh, falls ich mir den Hinweis erlauben darf, ich würde es begrüssen, wenn Sie mir gleich die Wahrheit sagen, damit die Busse nicht noch höher ausfallen muss.» «Es ist Weihwasser», sagte der Pilger. «Ich habe es so deklariert.» «Ganz recht», seufzte der Zöllner, «nur ist es eben französischer Cognac. Hennessy wie ich annehmen möchte. Und den haben Sie nicht deklariert.» Er drehte sich um und liess seinen Kollegen kurz riechen. «Was soll ich jetzt mit Ihnen machen?», wandte er sich erneut an den Pilger. «Ist Ihnen klar, dass ich Sie bei dieser Menge Cognac einbuchten muss?» Junge, Junge, dachte ich noch. Aber in solchen Gesprächen geht es selten um die Sache an sich, es geht darum den Widerstand des uneinsichtigen Schmugglers zu brechen und ihn unter die Botmässigkeit des Zollbeamten zu zwingen. «Gibt es noch Angaben, die Sie zur Sache machen wollen?» Der Pilger beschränkte sich zunächst auf ein unartikuliertes Brabbeln, dass nur allmählich das Klangbild zusammenhängender Worte annahm: «Also wenn das stimmt, was Sie sagen, Herr Zolloberinspektor, – und davon gehe ich aus! –, dann ist tatsächlich noch ein Wunder geschehen und der Herr im Himmel hat aus Weihwasser Cognac gemacht!»

Dabei bekreuzigte er sich wie es sich für einen guten Katholiken gehört. «Gepriesen sei der Herr, Amen.» Was von der Pilgerschaft natürlich wie ein mehrstimmiges Echo wiederholt wurde. Es liegt mir fern der Reaktion des Schweizer Zolls zu verulken, nur so viel soll hier bemerkt sein, das «Wunder» wurde bis auf die gesetzlich genehmigte Menge beschlagnahmt, was immerhin bewirkte, dass man als Freunde schied und es zu keiner Anzeige kam