Sandpferde haben auch Durst

Ja, seid ihr total übergeschnappt? Durch Tunesien mit dem Car?» Der Andreas, unser altgedienter Chauffeur, hatte von der geplanten Tour gerade aus der Zeitung erfahren. «Ist euch eigentlich klar, was das bedeutet? Das... das ist wie die Camel Trophy, nur eben ohne Off-road Pick-up mit Allradantrieb.» Die Raucher unter den werten Lesern werden sich vielleicht noch erinnern, was man in den achtziger Jahren unter der einzigartigen Camel Trophy verstand und was Wikipedia heute als «eine Art Autorallye mit Expeditionscharakter» vornehm umschreibt.

In der Regel ging es durch fahrtechnisch katastrophales Gelände wie die brasilianische Transamazônica-Strecke oder über unpassierbare, weil nicht mehr vorhandene Pisten in abgelegenen Dschungel-Regionen. Die Jeeps waren daher mit elektrischen Seilwinden ausgerüstet, ihre Dachträger mit Sandblechen und Zusatzscheinwerfern bestückt. Wir hatten trotzdem beschlossen den Sprung ins kalte Wasser zu wagen, schliesslich hatten wir den Mitreisenden keine Rallye versprochen, sondern nur eine «abenteuerliche» Reise. Schlammbäder am laufenden Band, wattaugliche Furten oder real roads to Hell – wie es damals in den Ausschreibungen des Zigarettenherstellers hiess –, standen nicht auf dem Programm. Trotzdem war die Reise für die damalige Zeit und für Walliser Verhältnisse eine mittelprächtige Sensation.

Von Visp aus ging es über Frankreich mit der Fähre auf den «schwarzen Kontinent» und von dort mit dem Car mitten hinein in die tunesische Hauptstadt, die schon damals ein Inbegriff orientalischer Lebensart war. Vor allem die Medina von Tunis, mit ihren Souks genannten Marktgassen und der imposanten Ez-Zitouna-Moschee, hatte es unseren Oberwalliser «Expeditionsfahrern» schon bald angetan. Nur der gute Andreas wollte dem lieben Frieden nicht trauen: Jeden Abend, während die Gäste dinierten, hockte er mit den arabischen Fremdenführern zusammen, um den Verlauf von Tagesausflügen en Detail zu besprechen. Glücklicherweise konnten die meisten Französisch. Was allzu schwer über die Zunge ging, vermittelten sie mit Händen und Füssen. An diesem Abend griffen sie allerdings noch zu anschaulicheren Mitteln: Ein Salzstreuer wurde auf einer Landkarte geleert und mit Streichhölzern eine Art Route gelegt.

«C’est le Chott El Djerid.» Die Rede war vom grössten Salzsee der Erde, einem Sumpf von fast fünftausend Quadratkilometern, der den dicht besiedelten Norden des Landes von seinem fast menschenleeren Süden trennt. Doch soweit ins Landesinnere wollten wir eigentlich nicht, uns interessierte viel mehr die umliegende Wüste. Von hier aus war der Salzsee wie eine schillernde Fata Morgana zu sehen. Also fuhren wir los. Die asphaltierte Strasse zwischen Tunis und Gafsa war längst verschwunden, der Car fuhr schon eine gute Stunde über holprige Pisten. Unser Fahrer schüttelte immer wieder den Kopf. Der Verlauf dieser Route ging ihm doch entschieden gegen den Strich.

Den Gästen schien die Schaukelei dagegen die perfekt Ergänzung des Wüstenpanoramas zu sein: «Das ist ja richtig nostalgisch, als wäre man mit dem Dromedar unterwegs!» «Kann schon sein», murmelte Andreas, «aber ein Geländewagen mit ordentlich was unter der Haube wäre mir doch um einiges lieber.» Als hätte der Bus nur auf dieses Stichwort gewartet, beruhigte sich die Fahrt augenblicklich – es war nun eher wie ein sanftes Gleiten und Rutschen, begleitet von einem Geräusch wie man das vom Snowboarden her kennt. Salah, der ortskundige Führer, sprang von seinem Sitz auf und begann zu gestikulieren, an den Panoramafenstern spritzten plötzlich meterhohe Sandfontänen vorbei. Der Motor heulte auf, obwohl sich der Car nicht mehr von der Stelle bewegte, – dann erst erstarb das Geräusch. Der Fahrer – kreidebleich im Gesicht – stieg als erster aus. «Heilige Madonna!» Die Hinterachse des Cars steckte bis zur Höhe der Radkästen im Sand. – Nur wo war die Strasse? Das fragte sich auch der einheimische Führer oder genauer gesagt, er erdreistete sich unseren ohnehin gestressten Chauffeur zu befragen. «Ja, Mensch, du hast doch gesagt, ich sollte der Piste immer schön folgen! Das hab ich getan!» «Pardon, Monsieur! Je ne suis pas responsable...» «Nix Pardon!», blies ihm Andi den Marsch. «Sieh ja zu, dass du Hilfe holst und jetzt – allez, ouste!»

Einen beleidigten Ausdruck auf dem Gesicht stampfte der Tunesier im festen Sand der Reifenspuren davon. Er blickte nicht einmal zurück, wo die Gäste inzwischen mit vereinten Kräften versuchten den Bus vom Sand zu befreien. Es wurde heiss, glühend heiss, die Hitze flirrte über den Wadis und inzwischen waren fast drei Stunden vergangen. Der Ortskundige liess immer noch auf sich warten und die vereinten Anschiebe-Versuche hatten nicht das Geringste gebracht. Manchem Fahrgast stand sein mulmiges Gefühl buchstäblich im Gesicht, denn alles was an dieser Wüsteneinöde fehlte waren im Grunde nur ein paar kreisende Geier am Himmel... «Ein Glück, dass es kein Treibsand ist», rief jemand in die schweigende Runde. «Oder ist es Treibsand? Woran erkennt man das eigentlich?» Unser Fahrer wusste darauf keine Antwort.

Doch man spürte förmlich, dass es hier draussen – zwischen Wanderdünen, korrodierten Felsen und braunen Dschebels – in etwa so lebensfreundlich war wie auf der Marsoberfläche oder im Inneren eines Vulkans. Die Karosserie des Cars hatte bereits die Temperatur einer Herdplatte erreicht. «Zum Backen von Spiegeleiern würde es reichen», meinte die hartgesottene Bus-Stewardess. Sie hatte bereits jede Menge Flüssiges unter die erschöpften Gäste gebracht, als einer der Herren, ein Jäger aus Gamsen, sich kerzengerade erhob: «Ja, hab ich schon einen in der Krone oder sind das da drüben Kamele?» Kein Zweifel, kaum hundert Meter von unserem Bus entfernt, zog gemächlich eine Karawane vorbei. Nie wieder habe ich den Andreas so flitzen gesehen wie in diesem Moment.

Er hatte sein Hemd ausgezogen und schwenkte es wie ein Schiffbrüchiger, der damit einem vorbeifahrenden Schiff signalisierte. Zehn Minuten später kam er mit ein paar Tuaregs – alle natürlich hoch zu Kamel – zu unserem manövrierunfähigen Fahrzeug zurück. «Bitte Platz machen!», verkündete er. «Was haben wir für ein Glück, der lokale Abschleppdienst war in der Nähe!» Die Beduinen hatten schon mit der Untersuchung der Stossstangen begonnen. Offenbar kannten sie das Problem, denn die lässige Art wie sie die Abschleppgurte anbrachten, wirkte extrem routiniert. Zwei Kamele setzten sich in Bewegung, während unser Fahrer mit Bleifuss aufs Gaspedal trat. Lange schienen die Reifen nur durchzudrehen, doch dann – unter dem Johlen der Gäste – machte der Bus einen kleinen Satz vorwärts. Zwanzig, dreissig Meter zogen die Tiere den Bus durch das Sandbett hindurch, dann tauchte die Piste wieder auf, es war geschafft!

«Dafür haben sich die Burschen, was kühles Blondes verdient!», witzelte Andreas – womit natürlich nicht die Busbegleiterin, sondern ein paar «Bière Valaisanne» aus seiner persönlichen Vorratskiste gemeint waren. Zu seiner Überraschung lehnten die Beduinen die schon geöffneten Flaschen höflich ab: Als Muslime war ihnen das Trinken von Alkohol strengstens verboten, doch das galt natürlich nicht für die eigentlichen Helden des Tages, die beiden Kamele. Kurzerhand wurden etwa zehn Flaschen in einen Eimer gefüllt und die Chameaux getränkt. Das Walliser Bier schien den Sandpferden bestens zu munden, denn sie schlabberten laut vor sich hin und leckten sich immer wieder den Schaum von den Lippen. Während sich die Gäste gut amüsierten, zog nur Andreas, der den Eimer stets nachfüllen musste, ein süsssaures Gesicht: Mit solch einem tierischen Besäufnis hatte nun wirklich keiner gerechnet.

Am Ende hatten die Kamele tatsächlich einen glasigen Blick. «Na, hast du ordentlich getankt, altes Mädchen?» Andreas hatte tatsächlich seine letzte Flasche geopfert. «Nur zu, du hast es dir redlich verdient!» Dennoch hätten es sich die Tuaregs im Nachhinein sicher anders überlegt, ihre Wüstenschiffe «mit Bier zu betanken»: als sie zu ihrer Karawane aufbrechen wollten, da schwankten die Tiere und machten kleine, ausgelassene Sprünge. Einen der Reiter hob es fast aus dem Sattel! Natürlich hielten wir uns alle mit dem Lachen zurück, doch im übertragenen Sinn sah das Ganze wohl jetzt schon nach einer Trunkenheitsfahrt aus. Glücklicherweise gehen aber in der tunesischen Wüste keine Promillejäger auf Streife