Verschollen im Wellness-Paradies

«Ja, genau, das meine ich mit dem Lacknerhof-Feeling...» «Wellness pur tanken.» «Du sagst es. Hast du schon mal das Macadamia-Nuss-Peeling probiert? Einfach himmlisch!» Ich überhöre nicht oft die Gespräche von Damen, doch am Frühstücksbüffet des Lacknerhofs, in der Schlange mit dem angewärmten Tellerchen vor der Brust, lässt sich das schwerlich vermeiden. Kein Zweifel, beide Damen gehörten zu unserer Reisegruppe. Ganz genau sah ich sie allerdings nicht, dazu steckte mir die letzte Nacht noch viel zu sehr in den Knochen. Wir waren nach Österreich gefahren, ins Salzburger Land, zum 34. Zerzuben-Festival, das im Schlosshotel Lacknerhof stattfinden würde.

Wer die Zerzuben Festivals kennt, der weiss, dass die Nächte lang werden können, und um ehrlich zu sein, hatte ich mich – gerade erst vor ein paar Stunden – in die Bettwäsche gewühlt. «...so ist es doch, nicht wahr?» «Äh, wie bitte?» Erst als sich die Dame zu mir umdrehte, kam ich wieder in der Gegenwart an. «Ich sagte, der Guss von warmen Ölen schenkt morgens schon inneren Frieden.» von Thor Kunkel «Inneren... Frieden? Mit Ölen? Wie soll das gehen?» Die beiden sahen mich argwöhnisch an. «Dann waren Sie noch gar nicht im Wellness-Palace?» Natürlich nicht... Wer mich kennt, weiss, dass mich der ganze Wellness-Chichi nicht sonderlich interessiert. Zudem gehöre ich noch zu der letzten Generation, die eine heilige Ehrfurcht vor Lebensmitteln hat. Öl gehört für mich in die Küche. «Wellness-Palace? – Nein. Wo soll der sein?» Eine der Damen trat einen Schritt zurück und wies mit Daumen nach unten, eine Geste, die mich an ein Sandalendrama erinnerte, in dem Cäsar persönlich über das Leben von Gladiatoren entschied. «Da unten?» «Ja, im Untergeschoss. Zweitausend Quadratmeter Schönheit. Alles vorhanden, vom Kräuterdampfbad bis zu den Erlebnisduschen...» «Erlebnisduschen?» Ich musste kichern. «Was erlebt man denn da?» «Das liegt ganz an Ihnen», sagte die andere Dame. Ihre rechte Augenbraue schoss dabei kurz in die Höhe. «Aber vielleicht sollten Sie erst mal etwas Ruhiges wie Abhyanga versuchen.» «Oder Shirodhara...» «Ja, das wäre doch etwas für ihn...» «Ist das essbar?», warf ich ein, doch die Schönheitsfee wies mir bereits mit einem Nun-stellen-Sie-sich-mal-nicht-so-an-Blick den Weg.

«Da hinten, seh’n Sie? Durch die Tür geht’s ins Men’s Spa und da melden Sie sich an der Rezeption und bestellen sich mal eine schöne Massage.» «Und ein Antistress-Paket», merkte die resolutere Dame an. «Sie sehen wirklich aus, als könnten Sie eines gebrauchen.» Tatsächlich hatte mich der Abend mehr mitgenommen, als ich mir vorstellen konnte. Der «Adler von Österreich» hatte zum Tanz aufgespielt und irgendwie schüttelte er immer wieder eine Zugabe aus dem Ärmel. Seine Trompete klang mir noch stets in den Ohren. Irgendwie erschien mir der Vorschlag der Damen also gar nicht verkehrt. Und meine Frau riet mir auch gleich dazu die Seele einmal baumeln zu lassen. Also ging ich durch diese Tür – und schleppte mich in besagtes Men’s Spa, in dem ich tatsächlich viele Mitreisende traf.

Manche erkannte ich erst auf den zweiten Blick, denn sie hatten irgendwelche Algen- oder Moder-Packungen auf dem Gesicht. Ah, so macht ihr euch also frisch, ihr Schlaumeier, ihr... Ich zwinkerte dem einen oder anderen verschwörerisch zu und ging weiter. Es herrschte ringsum ein Betrieb wie auf einem Bahnhofsvorplatz, mit dem kleinen Unterschied, dass hier – in dieser therapeutischen Wolke aus Harfenklängen und Düften – alle Leute in weissen Bademänteln lustwandelten. Ein Schild mit balkendicken Lettern fiel mir noch auf: Brust und Rücken harzen, 36.- Euro. – Harzen? «Das wollen Sie nicht wirklich versuchen», meinte ein Herr, der so aussah als hätte er hier überwintert. «Hat man eine empfindliche Haut, kann es tagelang jucken. Und dann die Rötungen, – schön ist das nicht.» Ich hielt das für einen praktischen Wink mit dem Zaunpfahl eine ganz grosse Kehre zu machen, doch eine junge, in Weiss gekleidete Frau eilte mir nach: «Herr Kunkel? – Hier geht’s lang... Ihre Frau rief gerade an und meinte Sie würden sich sicher verlaufen.» Damit war klar, es führte für mich kein Weg an meiner ersten konkreten Wellness-Erfahrung vorbei.

Ich hatte mich für die Klassische Ganzkörpermassage entschieden, nicht zuletzt, weil ich mir darunter noch halbwegs etwas vorstellen konnte – oder hätten Sie gewusst, was Sie in einem «Caracallabad mit Farblicht-Therapeutin» erwartet? Mir schien das etwas für ziemlich fortgeschrittene Wellness-Kenner zu sein, so wie die prickelnde Wärmemaske mit Amazonas-Erde oder anderen Delikatessen... Eine freundliche Masseuse bat mich also zu Tisch, das heisst, ich kam bäuchlings auf einer Art Liege zurecht, in der es nur eine kleine Gesichtsöffnung ab. «Alles klar? Können Sie atmen?» Eine sicherlich gut gemeinte oder doch beunruhigende Frage, denn der eigene Atem ist ja an sämtliche Lebensfunktionen gekoppelt. Was, wenn ich «Nein» gesagt hätte? Die Behandlung versprach einen erfrischenden Effekt und die Masseuse, die ich nicht sehen konnte, machte ihre Sache recht gut.

«Fühlen Sie sich wohl?», fragte sie im Abstand von zwei Minuten. «Keine Atembeschwerden? Geht es Ihnen gut?» Soweit ich noch bei Bewusstsein war, konnte ich diese Frage bejahen. Allerdings bekam ich den Mund nicht ganz auf, denn mein Unterkiefer sass wie eingespannt in dieser doch recht eigenartigen Tischkonstruktion. Mehr als ein kläglicher Laut kaum dabei nicht raus. «Schon gut, entspannen Sie sich! Es hilft nichts sich vor Nervosität zu verzehren. Lassen Sie einfach mal los. Vergessen Sie, dass Sie sich eigentlich nicht entspannen können. Seien Sie glücklich und entspannen Sie sich...» Worte wirken, selbst wenn man es oft nicht für wahr haben will – ich wurde entspannt und entspannter, bis mich der Schlaf, den mir der «Adler» geraubt hatte, sanft einschlummern liess... «Na sehen Sie», hörte ich meine Masseuse aus grosser Ferne. «Der Knoten in Ihrem Nacken hat sich in Luft aufgelöst. Sie sind jetzt entspannt. – Ich lasse Sie jetzt ein Viertelstündchen allein. Wenn Sie wieder so weit sind, stehen Sie einfach auf. Einen schönen Tag wünsche ich noch.»

Sie packte mich regelrecht in vorgewärmte Handtücher ein und vor meinen Augen wurde es schwarz – Äh, wo bin ich noch mal? – Hallo? Tatsächlich wird man in seinem Leben nur selten in absoluter – und ich meine – endgültiger Finsternis wach. Meine Augen waren weit offen und doch konnte ich nicht das Geringste erkennen. Nur keine Panik... Mir fiel ein, dass ich noch immer auf diesem Massagetisch lag, den ich allerdings ebenso wenig ausmachen konnte. Irgendetwas lag auf meinem Rücken, es fühlte sich nicht mehr nach einem, sondern nach einem ganzen Haufen Handtücher an. In so einer undurchsichtigen Situation erwachsen dem Menschen komplett neue Sinne: Ich kombinierte, diese klamme, nach ätherischen Ölen riechende Masse auf meinem Rücken konnten tatsächlich nur Handtücher sein. Gebrauchte Handtücher. Dutzende... Vorsichtig stemmte ich mich mit dem Nacken gegen den Tisch, was meinen Oberkörper schräg anhob und mir die Arme befreite. Sie begannen bis in die Fingerspitzen zu prickeln. «Hallo? Ist da jemand?» Meine gute alte Analog-Uhr zeigte Viertel nach zwei ... Hiess das nun, dass es nachmittags war oder etwa schon Nacht? Während ich nochmals rief, versuchte ich die Höhe des Tischs abzuschätzen, auf dem ich mich noch immer befand.

Vorsichtig richtete ich mich auf, wobei ich mich an den Rändern des Tischs festklammerte. Noch immer sah ich rein gar nichts und mein Gleichgewichtssinn riet mir keine allzu grossen Sprünge zu machen. Es war ein spannungsgeladener Moment als ich im Dunkel einen Fuss ausstreckte und tatsächlich nach einer Ewigkeit den Boden berührte. Touchdown... Im kriechenden Passgang schaffte ich es zur Tür, sie war geschlossen, doch das machte nichts, denn wenn der Lacknerhof von einem Architekten der westlichen Welt erbaut worden war, dann musste hier irgendwo auf Höhe der Klinke, so ein kleiner, in die Wand eingelassener Lichtschalter sein. Vorsichtig tastete ich mich am Türrahmen hoch, meine Finger fanden eine Ausbuchtung, die sich nach Blende anfühlte und – KNIPPS! – schlagartig wurde es Licht. Alles, was es an dreidimensionaler Einrichtung gab, war plötzlich da und ich blickte automatisch zum Massagetisch in der Mitte des Zimmers zurück; tatsächlich ragte er aus einem Haufen Handtücher auf. Entweder hatte jemand versucht mich in dieser Wellness-Katakombe unter Frottee-Handtüchern zu begraben oder eine wohlmeinende Putzkraft hatte mich samt Tisch für eine Handtuchablage gehalten. Sachen gibt’s!

Schon als ich die Tür einen Spalt öffnete, wusste ich, dass es keinen Sinn hatte lautstark zu rufen oder mich sonst wie bemerkbar zu machen – es war tatsächlich mitten in der Nacht und der Lacknerhof Wellness Palace lag in völliger Dunkelheit vor mir. Trotz des rustikalen Dekors und zauberhafter Wand-Malereien, – zwischen Dampfbädern, in denen nichts dampfte, Panorama-Whirlpools ohne Wasser, einem Spa-Bereich mit zig Tischen, an denen jetzt niemand sass, zig Massage- und «Anwendungsräume», die wie opulente, aber leere Schlafzimmer eines Märchenpalasts wirkten–, trotz all dieser Pracht kam ich mir ein bisschen wie in einer riesigen Geisterbahn vor und steuerte schnurstracks auf einen Lift zu, der glücklicherweise auch sehr Pronto kam. Fünf Minuten später schlich ich in unser Zimmer und schlüpfte neben Gerda unter die Decke. «Sag nur, du warst bis eben im Wellness Palace?», murmelte sie. «Wusste gar nicht, dass die rund um die Uhr offen sind...» Sind sie auch nicht, dachte ich.

Doch wie sagt man seiner Frau, dass man im grössten Wellness-Tempel vom ganzen Salzburger Land nichts Besseres fand als den Schlaf? «Ja, ja,», sagte ich endlich, «wenn man mal angefangen hat, weiss man nicht mehr, wann man aufhören muss.» «Das merke ich», sagte sie. «So entspannt hast du seit Jahren nicht mehr geklungen.» Das mochte sein, – es ging ja nicht anders –, aber ich habe seit dieser unfreiwilligen Schlafkur eine Art Allergie gegen dieses Allerwelts-Wörtchen Wellness entwickelt. Wenn ich es höre, werde ich misstrauisch, unruhig, kribbelig, nervös, fühle mich wie auf dem Sprung und verspüre ganz sicher irgendwann den Drang laut um Hilfe zu schreien!»